| Vergaberecht

Zulässigkeit einer Gesamtvergabe nach § 97 Abs. 4 Satz 3 GWB

Nach § 97 Abs. 4 GWB sind Leistungen sind in der Menge aufgeteilt (Teillose) und getrennt nach Art oder Fachgebiet (Fachlose) zu vergeben. Mehrere Teil- oder Fachlose dürfen zusammen vergeben werden, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies erfordern. Die Vergabekammer Mecklenburg-Vorpommern (Beschluss vom 01.02.2023 – 3 VK 11/22) hatte zu entscheiden, ob die Einsammlung und die Verwertung von Bioabfall als Gesamtauftrag ausgeschrieben werden durfte oder eine Aufteilung in Losen erforderlich gewesen wäre.

 

Sachverhalt

 

Die Antragsgegnerin schreibt im offenen Verfahren Abfallentsorgungsleistungen (VgV) aus. Auftragsgegenstand ist - als ein Gesamtauftrag - die Einsammlung und die Verwertung des Bioabfalls, die Abholung und der Transport von Grünabfall von den Recyclinghöfen, die Einsammlung und der Transport von Weihnachtsbäumen, die Behälterbewirtschaftung sowie die Verwertung der erfassten organischen Abfälle.

 

Die Antragstellerin rügt u.a. die unterbliebene Losaufteilung. Die Antragsgegnerin habe von der gebotenen Aufteilung der Leistungen getrennt nach Art und Fachgebiet (Fachlosbildung) abgesehen, ohne dass wirtschaftliche oder technische Gründe dies gerechtfertigt hätten, indem für die Einsammlung der Bioabfälle einerseits und deren Verwertung andererseits keine eigenständigen Fachlose gebildet und diese nicht getrennt ausgeschrieben worden seien. Die Anforderungen aus der Novellierung der Bioabfallverordnung seien als Begründung hierfür nicht hinreichend. Gewisse Unsicherheiten über die Entfernung zwischen Ort der Sammelleistung und Ort der Verwertung - wie von der Antragsgegnerin geltend gemacht - bestünden immer und trotzdem würde es in der Branche üblich sein, die Leistungen in Lose zu zerlegen. Dieses Problem würde entweder dadurch gelöst, dass Entfernungskilometer im Angebot anzugeben seien oder aber eine Umschlagstation vorgesehen würde. Es sei nicht erkennbar, dass die Zusammenführung von Logistik und Verwertung in einem Los die Maßnahmen zur Einhaltung der novellierten Bioabfallverordnung optimieren würde. Es sei davon auszugehen, dass zertifizierte Entsorgungsfachbetriebe eine Kontrolle auf Fremdstoffe ohnehin im eigenen Interesse vornehmen müssten. Wegen der unterbliebenen Losaufteilung seien mittelständische Interessen verletzt. Die Antragstellerin hätte bei einer Losaufteilung bezogen auf die Sammelleistungen ein besseres Angebot abgeben können.

 

Die Antragsgegnerin ist dagegen der Auffassung, der Antrag sei unbegründet. Es sei nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin in ihren Rechten aus § 97 Abs. 1 GWB verletzt sei. Die Antragsgegnerin habe sich nach den Maßgaben der Rechtsprechung im Rahmen einer Abwägung in zulässiger Weise gegen eine Losaufteilung entschieden. Diese Entscheidung sei durch die Nachprüfungsinstanzen nur dahingehend zu überprüfen, ob der öffentliche Auftraggeber hinreichend konkrete und projektbezogene Gründe herausgearbeitet und diese nachvollziehbar dokumentiert habe.

 

Entscheidung

 

Die Vergabekammer gibt der Antragsgegnerin Recht. Zwar sei eine Gesamtvergabe nach § 97 Abs. 4 GWB aus Gründen des Mittelstandsschutzes nur ausnahmsweise zulässig; grundsätzlich muss ein Auftrag in Lose aufgeteilt werden. Auftraggeber dürfen von der Aufteilung des Auftrags in Lose allein dann absehen, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies erfordern. Solche liegen vor, wenn bei getrennten Ausschreibungen das – nicht durch inhaltliche Gestaltung der Vergabeunterlagen vermeidbare – Risiko besteht, dass der Auftraggeber Teilleistungen erhält, die zwar jeweils ausschreibungskonform sind, aber nicht zusammenpassen und deshalb in ihrer Gesamtheit nicht geeignet sind, den Beschaffungsbedarf in der angestrebten Qualität zu befriedigen.

 

Der Auftraggeber muss die widerstreitenden Belange abwägen, als deren Ergebnis die für eine zusammenfassende Vergabe festgestellten wirtschaftlichen oder technischen Gründe überwiegen müssen. Die Entscheidung des Auftraggebers ist nur eingeschränkt überprüfbar, nämlich dahingehend, ob er auf einer vollständigen und zutreffenden Tatsachenermittlung und nicht auf fehlerhaftem Ermessen, insbesondere Willkür, beruht. Bei prognostischen Entscheidungen steht ihm eine Einschätzungsprärogative zu. Für eine Gesamtlosvergabe müssen Gründe vorliegen, welche über solche Schwierigkeiten hinausgehen, die typischerweise mit jeder losweisen Ausschreibung verbunden sind. An sich plausible Gründe, wie etwa die Entlastung des Auftraggebers von der Koordinierung, der Vorzug, nur einen Vertragspartner zu haben oder die einfachere Durchsetzung von Gewährleistungsansprüchen sind damit nicht geeignet, einen Ausnahmefall zu begründen. Soweit eine Antragstellerin einwendet, der Antragsgegner könne durch sorgfältige Planung sicherstellen, dass sich bestimmte Risiken nicht verwirklichen, verkennt sie, dass ein öffentlicher Aufraggeber in einem solchen Fall den sichersten Weg wählen darf, wobei ihm insoweit nach vollständiger und zutreffender Sachverhaltsermittlung ein Beurteilungsspielraum zusteht.

 

Diese Maßstäbe zu Grunde gelegt, ist die Entscheidung, keine Lose zu bilden, in diesem Ausnahmefall unter den gegenwärtigen neuen Bedingungen nicht zu beanstanden, da sie insoweit hinreichend begründet wurde. Die Antragsgegnerin stützt sich bei der Vergabe auf eine Studie, die für dieses Leistungsprofil in Form eines Eckpunktepapiers angefertigt worden war.

 

Eine getrennte Ausschreibung zu den Losen Einsammlung und Verwertung würde die Vorgabe eines Umschlagplatzes oder eine Angabe für Entfernungskilometer zur Verwertung erforderlich machen. Ein Umschlagplatz würde Kosten verursachen und eine Angabe von Entfernungskilometern würde Schwierigkeiten in der Kalkulation nach sich ziehen, da der Zuschlagsbieter für die Verwertung unter Umständen bei der Ausschreibung der Einsammlung nicht feststeht und der Preis für die Leistungen wegen der Unsicherheiten auf dem Kraftstoffmarkt zum Zeitpunkt des Zuschlags nicht feststeht.

 

Die novellierte Bioabfallverordnung schreibt in Zukunft strenge Grenzwerte für die Einbringung von Fremdstoffen vor. Die Novellierung tritt während der ausgeschriebenen Vertragslaufzeit in Kraft. Im Eckpunktepapier ist als Konfliktpunkt dargelegt worden, dass es Schnittstellenprobleme gibt, wenn sich „Einsammler“ und „Verwerter“ gegenseitig die Verantwortung zuschieben. Die Maßnahmen der Qualitätskontrolle können besser harmonisiert werden, wenn nur einem Anbieter dieser Prozess obliegt. Bei einem Wert von über 3 Masse % Gesamtfremdstoffe (Rückweisungswert) kann der Verwerter allerdings unbeschadet einer vertraglichen Regelung eine Rücknahme verlangen. Wenn ein Auftragnehmer selbst die Bioabfallverwertung übernehmen soll, besteht für ihn ohnehin ein großes Interesse daran, die Werte stets schon bei der Einsammlung zu unterschreiten. Die Vergabestelle spart sich also bei der Vertragsgestaltung, für den „Einsammler“ Vorgaben zu machen, die einzuhalten und im gegenteiligen Fall durchzusetzen sind. Mit dieser Konfliktvermeidungsstrategie hat die Vergabestelle zwar auch eine Entscheidung über den Umfang der eigenen Arbeiten getroffen, welche sie mit einer Vergabe auslagern will. Dies sind – wie bereits aufgezeigt - auch Koordinierungsarbeiten, die gerade nicht eine Gesamtlosvergabe rechtfertigen, sondern die einem Auftraggeber zuzumuten sind. Die Prognose aber, dass die verschiedenen Bieter, welche den Zuschlag erhalten, eventuell im Streit über die vom Verwerter zurückgewiesenen Stoffe einen, wenn auch kleinen Teil des Abfalls überhaupt nicht mehr entsorgen, ist ein Risiko, welches die Vergabestelle so nicht übernehmen muss. Diese Begründung ist daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu beanstanden. Ebenso ist es nicht zu beanstanden, wenn eine Vergabestelle nicht genau vorhersagen kann, wie die Umsetzung der novellierten Bioabfallverordnung verlaufen wird; in einem solchen Fall darf sie sich gegen etwaige Risiken absichern. Unter Nr. 3 des Eckpunktepapiers wird durch den Auftraggeber auf die zahlreichen Unsicherheiten verwiesen, die im Rahmen der Ausschreibung bestehen. Die Prognose, dass die Umsetzung neuer Vorschriften Praxisprobleme mit sich bringt, von denen man nicht genau weiß, in welcher Intensität sie auftreten werden und wie sie zu bewältigen sind, ist willkürfrei und fehlerfrei. Die Antragsgegnerin durfte deshalb die Entscheidung für eine Gesamtlosvergabe als Ausnahme hierauf stützen.

 

Praxishinweis

 

Die Zulässigkeit einer Gesamtvergabe setzt voraus, dass sich der öffentliche Auftraggeber mit dem grundsätzlichen Gebot der Losvergabe einerseits und den im konkreten Fall dagegensprechenden Gründen andererseits auseinandersetzt und sodann eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Belange trifft, als deren Ergebnis die für eine zusammenfassende Vergabe sprechenden technischen und wirtschaftlichen Gründe überwiegen müssen. Die Entscheidung des Auftraggebers ist von den Vergabenachprüfungsinstanzen nur darauf zu prüfen, ob sie auf vollständiger und zutreffender Sachverhaltsermittlung und nicht auf einer Fehlbeurteilung beruht.


Dr. Ronald M. Roos